Thesen

 

Zur niederdeutschen Literatursprache

  1. Es gab eine überregionale niederdeutsche Literatursprache, die am vollkommensten in der Sprache der niederdeutschen Bibelübersetzung (16. Jh.) zutage tritt. Die heutige vollständige Fragmentierung des Niederdeutschen trat erst ein, nachdem der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) die niederdeutsche Literatur zugrunde gerichtet hatte. Vollständig erlosch die überregionale niederdeutsche Schreibsprache erst in der ersten Hälfte des 18. Jhs.

  2. Der Ausdruck Mittelniederdeutsch, der sich in Handbüchern als Bezeichnung für auch die klassische niederdeutsche Literatursprache des 16. und 17. Jhs. findet, ist irreführend. Das Niederdeutsche des 16. und 17. Jhs. hat im Wesentlichen den sprachlichen Entwicklungsstand des modernen Niederdeutschen erreicht. Der Unterschied der alten Literatursprache und der heutigen Mundarten liegt hauptsächlich im Unterschied zwischen literarischem Ausdruck und gesprochener Sprache begründet.

  3. Man müsste die klassische niederdeutsche Literatursprache eigentlich Sassisch nennen.1 Die Selbstbezeichnung des klassischen Niederdeutschen lautet Sassisch (Sassisck, Sassesch, Sessisch, Sassch). Hauptsächlich in der Spätphase der klassischen niederdeutschen Literatur wurde daneben auch der Ausdruck Neddersaxisch (Neddersassesck, Neddersassk) gebraucht. Die Ausdrücke Plattdütsk und Nedderdütsk kamen erst nach Ende des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) auf. Der Ausdruck Plattdütsk wurde immer nur für die modernen niederdeutschen Mundarten verwendet.

1 Dieser Standpunkt ist natürlich nicht neu, sondern wurde bereits so ähnlich in der ersten Hälfte des 19. Jhs. vertreten (vgl. Staatsbürgerliches Magazin mit besonderer Rücksicht auf die Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. - Bd. 1 (1821). S. 651).

Zur niederdeutschen Bibel

  1. Der von Johan Bugenhagen herausgebene niederdeutsche Bibeltext ist im Umfeld der Universität Wittenberg entstanden (vgl. Geschichte der niederdeutschen Bibelübersetzung).

  2. Die von David Wolder vorgenommene Neuausgabe des Bugenhagenschen Bibeltextes bedeutete nur einen geringen Eingriff in den Wortlaut des Texts und schon gar nicht eine Übertragung in einen anderen Dialekt. Vielmehr hat Wolder die Rechtschreibung des Bibeltexts konsequent überarbeitet (vgl. Geschichte der niederdeutschen Bibelübersetzung).

Zur Komödie Teweschen Hochtydt

  1. Die Ausgabe Hamburg, 1640 ist nicht die erste Ausgabe, wie bislang angenommen, sondern die Ausgabe Zutphen, 1634 ist die früheste bekannte Ausgabe von Teweschen Hochtydt.

Zur Grammatik

  1. In der westfälischen Literatur des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit erscheinen häufig geschriebene Kurzvokale an Stellen, an denen im modernen Westfälischen eine Brechung der Kurzvokale in offener Silbe ("Westfälische Brechung") zu erwarten wäre. Da der Germanistik zufolge die altgermanischen Kurzvokale zu dieser Zeit längst aus dem Westfälischen verschwunden waren, hat man diese Kurzvokale als den schriftlichen Ausdruck der westfälischen Brechungen anzusehen (vgl. Westermann, 1524, Von Detten, 1597 und Münster, 1706).

  2. Die Unterscheidung von Dativ und Akkusativ der Personalpronomina, die heute nur noch am Südrand Westfalens vorkommt, lässt sich im 16. Jh. noch im Lippstädter und im Herforder Raum sowie in Ostfalen nachweisen (vgl. Westermann, 1524, Von Quernheim, 1589 und Wittenberg, 1528a). Das heutige Gebiet, in dem Dativ und Akkusativ der Personalpronomina unterschieden werden, ist somit der letzte Rest eines früher viel größeren Gebietes, (das vielleicht einstmals das ganze niederdeutsche Sprachgebiet umfasst hat).

Zur Geschichte Niederdeutschlands

  1. Die Gografschaften waren die ersten politischen Einheiten in Niederdeutschland, deren Gografen ursprünglich direkt von der Gogemeinde gewählt wurden. Die bäuerlichen Gografschaften bildeten den Unterbau der mittelalterlichen Gesellschaft, auf dem die Lehnspyramide des Adels aufbaute. Der Sachsenspiegel kennt noch einen vom Volke gewählten Gografen, der aber der Bestätigung durch den adeligen Gebietsherren bedurfte.

  2. Die ab dem 13. Jh. nachweisbaren Gografschaften haben sich aus den vom 9. bis zum 12. Jh. belegten Gauen entwickelt. Es gilt dabei aber zu bedenken, dass die Ausdehnung vieler Gografschaften im Rahmen der feudalen Territorialherrschaft des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit geändert worden ist. Für den Zusammenhang mit den hochmittelalterlichen Gauen ist darum der älteste Gebietsstand einer Gografschaft von besonderen Interesse.

  3. Gottfried Wilhelm Leibniz hat als erster den Begriff Ostfalen im modernen Sinne gebraucht, nämlich als Begriff einer nach wie vor bestehenden Landschaft, deren Geschichte es zu erfassen und zu erforschen gilt. Bereits im 15. und 16. Jh. hatten Historiker die Weser als Grenze zwischen Westfalen und Engern einerseits und Ostfalen andererseits in altsächsischer Zeit betrachtet, was historisch falsch ist und vielmehr bereits auf das Entstehen des Begriffes Ostfalen im modernen Sinne hindeutet.

  4. Die Karte Typus parvae Angliae inter Iutiam et Holsatiam ist im persönlichen Umwelt des Statthalters Heinrich Rantzau entstanden.

 

Beobachtungen

 

Wo findet man außerhalb Deutschlands viele niederdeutsche Bücher?
Drei Bibliotheken außerhalb Deutschlands sind für die niederdeutsche Bibliographie von besonderem Interesse:

  1. Die Österreichische Nationalbibliothek,
  2. die Königliche Bibliothek zu Kopenhagen1 und
  3. die Britische Nationalbibliothek.

Die kulturellen Bezüge widerspiegeln die politischen Beziehungen der Vergangenheit:

  1. Österreich war bis 1806 Teil des Heiligen Römischen Reiches und danach bis 1866 Teil des Deutschen Bundes. In den letzten Jahrhunderten hatten die Kaiser des Heiligen Römischen Reichs ihre Residenz in Wien.
  2. Schleswig-Holstein2 stand jahrhundertelang bis 1864 unter der Herrschaft dänischer Könige.
  3. Das Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg, später das Königreich Hannover, war generationenlang bis 1837 mit Großbritannien in Personalunion verbunden.

Und wo findet man sie kaum?
In niederländischen Bibliotheken hingegen finden sich vergleichsweise wenig niederdeutsche Bücher, was man angesichts der engen sprachlichen Verwandtschaft und der geographischen Nähe durchaus anders erwarten könnte. Vermutlich hat hier das frühzeitige Ausscheiden der Niederlande aus dem Heiligen Römischen Reich3 die Entwicklung eines kulturellen Bezugs4 verhindert. Die Sache bleibt unerklärlich.


1 Die Digitalisate der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen finden sich auf Archive.org.

 

Titelblatt der niederdeutschen Uebersetzung des Juetlaendischen Rechts, Schleswig 1593
CC BY-NC-SA 4.0
2 Das Herzogtum Schleswig gehörte zu Dänemark, während das Herzogtum Holstein Teil des Heiligen Römischen Reiches war.

In Schleswig mit Ausnahme der nordfriesischen Uthlande galt jütländisches Recht ("Jyske Lov").
In Holstein galt sächsisches (sassisches) Recht, das heißt Holsten Landrecht plus Sachsenspiegel, an der Westküste Dithmarscher Recht.

Beide Herzogtümer waren wiederum über die Reichsgrenze hinweg miteinander verbunden und wollten miteinander verbunden sein. (Vgl. den Vertrag von Ripen (1460): "unde dat se bliven ewich tosamende ungedelt.")

Man darf daher Schleswig-Holstein mit Fug und Recht eine Brücke zwischen Niederdeutschland und Skandinavien nennen.

Wenn man sich mit der niederdeutschen Literatur befasst, taucht man schnell auch in die Geschichte Dänemarks ein.

Sogar der Nationalismus des 19. und 20. Jhs. hat in kultureller Hinsicht die schleswig-holsteinische Brücke nicht vollständig zum Einsturz gebracht.

 

Titelblatt der zeitgenoessischen Bekanntmachung des Burgundischen Vertrages, 1548
NoC-NC/1.0
3 Meilensteine sind der Burgundische Vertrag (1548) und der Westfälische Frieden (1648).

Bis 1548 hatten Teile der Niederlande zum Westfälischen Kreis gehört. Der Burgundische Vertrag schlug Teile des Westfälischen Kreises zum Burgundischen Kreis und fasste nun mehr oder weniger das Gebiet der heutigen Benelux-Staten im Burgundischen Kreis zusammen. Außerdem bestimmte der Burgundische Vertrag, dass der Burgundische Kreis nicht zum Heiligen Römischen Reich gehören, wohl aber unter dessen Schutze stehen sollte.

Vergleiche den Text der zeitgenössischen Bekanntmachung des Vertrags.

Vergleiche außerdem Der Achtzigjährige Krieg (1568-1648) führte zur Loslösung der nördlichen Niederlande vom habsburgischen Landesherren.

Die Unabhängigkeit der nördlichen Niederlande wurde von den europäischen Mächten im Westfälischen Frieden anerkannt.

 

Titelblatt des Landrechts von Overyssel, Deventer 1559
NoC-NC/1.0
4 In den Niederlanden östlich der Yssel wurden und werden vielleicht noch heute hier und da westfälisch geprägte Mundarten gesprochen, die im Niederländischen unter dem Begriff Nedersaksisch zusammengefasst werden. (Nähere Informationen finden sich im Handboek Nedersaksische taal- en letterkunde. Bekijk het PDF bestand. anklicken. Nähere Information zur Selbstbezeichnung des Niederdeutschen findet sich hier.) Das niederländische Wort Nederduytsch ist ein veralteter Ausdruck für die niederländische Sprache. Sprachsoziologisch kann man
  • das heutige Niederdeutsche in seinem Verhältnis zum Hochdeutschen als scheindialektisierte Abstandssprache bezeichnen. (Vgl. Kloss 1978, S. 81 Punt 4.2. Siehe außerdem Kapitel 2.2.4. "Niedersächsisch (Sassisch)," S. 181 - 198.)
  • Die modernen westfälischen Mundarten im Osten der Niederlande müssen in ihrem Verhältnis zum Niederländischen hingegen als volldialektisiert gelten,
woraus sich allerdings nicht der Schluss ziehen lässt, Niederdeutsch sei ein Dialekt des Niederländischen. Das Niederdeutsche ist vielmehr die beiderseits der Staatsgrenze verkannte und missachtete Schwestersprache des Niederländischen.

Das Landrecht von Overyssel war im 16. Jh. in niederdeutscher Sprache verfasst. (Vgl. Deventer, 1559.) Siebzig Jahre später war es niederländisch. (Vgl. Deventer, 1630 und Zwolle, 1630.)

Die heutigen Niederländer verstehen noch die Sprache alter niederdeutscher Literatur, können aber die Frakturschrift, wenn überhaupt, nur mit Mühe lesen. Niederländische Bücher wurden aber im 16. und 17. Jh. auch mitunter in Frakturschrift gedruckt.

Im Mittelalter fielen die Gegend um Winterswick und Groningen unter das Bistum Münster, Westerwolde unter das Bistum Osnabrück.
Letzte Änderung: 1. Januar 2024 Zurück