Vorwort

Zum Übersetzer
Heinrich Stolte wurde 1858 auf einem Hof in der Bauernschaft Ströhen bei Brockhagen geboren. Bis zum Besuch der Schule wuchs er in einer beinahe einsprachig plattdeutschen Umgebung auf. Stolte hat zurückblickend darüber geschrieben: Up iusen Huawe weort dat Breokhiager Platt kuüert. Wui Kinner hairen for der Scheoltuit ninn haugduütsk Weort os blaut in den lütken Kinnergebedden, doe us Mudder lere.1 Stolte verließ in jungen Jahren den elterlichen Hof und war später als Leiter der Taubstummenschule in Bielefeld tätig. Er starb am 16. Juni 1935.

1925 veröffentlichte Stolte das Buch "Wie schreibe ich die Mundart meiner Heimat? : ein Beitrag zur niederdeutschen Rechtschreibung und Mundartforschung auf der Grundlage der Ravensberger Mundart in Brockhagen und Steinhagen"2, das im Gegensatz zu dem, was der Titel suggeriert, vor allem eine Grammatik der Ortsmundart Brockhagens enthält. 1931 veröffentlichte Stolte eine überarbeitete und erweiterte Version dieses Werkes unter dem Titel "Bauernhof und Mundart in Ravensberg : Beiträge zur niederdeutschen Volkskunde"3 . Neben einer Ortsgrammatik umfasst dieses Werk eine unter dem Titel "Der Bauernhof um 1870 zusammengefasste Sammlung plattdeutscher Texte"4 aus der Feder Stoltes sowie ein plattdeutsch-hochdeutsches Wörterbuch5 zu dieser Sammlung.

In "Der Bauernhof um 1870" beschreibt Stolte in sieben Kapiteln die Lebens- und Arbeitswelt seines elterlichen Hofes, so wie er diese als Zwölfjähriger erlebt hat. Das Werk ist als Quelle zur Volkskunde von unschätzbarem Wert und von Bedeutung für die Geschichte der Landwirtschaft.

Nicht alle Werke Stolte sind zu seinen Lebzeiten veröffentlich worden. Neben vorliegender Übersetzung des Neuen Testamentes in die Ravensbergische Mundart, die 2007 erstmals von mir herausgegeben wurde, hat uns Stolte eine Sammlung "Alte bekannte Lieder in Ravensberger Mundart" hinterlassen, die 33 Volkslieder, 17 Kirchenlieder und 25 Lieder aus dem Kirchenjahr enthält und ebenfalls 2007 erstmals von mir herausgegeben wurde.6

Zur Sprache
Stolte sprach Ravensberger Plattdeutsch. Die Zugehörigkeit dieser Mundart zur ostwestfälischen Mundartgruppe des westfälischen Niederdeutsch lässt sich bereits nach dem Lesen einiger Sätze von Stoltes Übersetzung eindeutig feststellen.

Kennzeichnend für das Ostwestfälische ist die Verwandlung von allgemein niederdeutschem -al- zu -ol-, wofür sich zahlreiche Belege in der Sprache Stoltes finden, wie z.B. oll (schon), olle (alle) und os (als). Besonderheiten im Wortschatz ergänzen das Bild. So benutzt Stolte die typisch ostwestfälischen Ausdrücke Luüd (Mädchen) und wacker (schön).

Sprachwissenschaftlich werden die verschiedenen westfälischen Mundartgruppen anhand der funktionellen Verteilung der alten ê- und ô-Laute voneinander abgegrenzt. Durch die Spaltung des alten ê(2) unterscheidet sich das Ostwestfälische von allen anderen westfälischen Mundarten. Die Spaltung des alten ê(2) tritt auch in der Sprache Stoltes deutlich zutage: Stolte schreibt einerseits Klaid (Kleid) und swaiden (schwitzen) und andererseits oen (ein) und Stoen (Stein).

Die ostwestfälischen Mundarten lassen sich in zwei bzw. drei Kategorien unterteilen abhängig von der Intensität, mit der sie die alten Langvokale diphthongiert haben. Zur Gruppe der wenig und gemäßigt diphthongierenden Mundarten gehören das Osnabrückisch-Tecklenburgische, die Wiedenbrücker Mundart und das Waldeckische. Das Ravensbergische gehört mit dem Lippischen, dem Paderbornischen und der Mundart von Störmede zu den stark diphthongierenden ostwestfälischen Mundarten. Charakteristisch für diese Gruppe ist - mit einigen Variationen - die Diphthongierung des alten î zu ui und die des alten û zu iu, ferner die Verwandlung des alten ô zu eo und die des alten ê zu oe. Starke Diphthongierung kommt außerhalb Ostwestfalens in Teilen des Sauerlandes sowie im südlichen Niedersachsen vor.

Zur Schreibweise
Heinrich Stolte hat etwas geleistet, woran mancher Sprachwissenschaftler gescheitert ist: Er hat eine überzeugende Schreibweise für eine bis dahin kaum geschriebene Sprache entwickelt. Der maschinenschriftlichen Übertragung von Stoltes Übersetzung ist ein Kapitel Aussprache und Schreibung beigefügt, in dem die Schreibung der langen und kurzen Silben, Groß- und Kleinschreibung, Satzzeichen und anderes erläutert werden. Hinzuzufügen ist, dass Stolte sich bei der Schreibung der zahlreichen Ravensberger Zwielaute (Diphthonge) weitgehend auf das Werk Westfälische Grammatik. Die Laute und Flexionen der Ravensbergischen Mundart mit einem Wörterbuche7 des Germanisten Hermann Jellinghaus gestützt hat. Man darf mit Fug und Recht behaupten, dass die von Stolte entwickelte Schreibweise auf wissenschaftlicher Grundlage beruht.

Zur Textausgabe
Grundlage der vorliegenden Ausgabe ist die maschinenschriftliche Fassung von Heinrich Stoltes 1933 angefertigter handschriftlicher "Übertragung der Bücher und Briefe des Neuen Testamentes in das Brockhäger Platt". Nach Ausweis des Titelblattes wurde die maschinenschriftliche Fassung von Meta Koch aus Cleve8 angefertigt. Die maschinenschriftliche Fassung enthält außerdem Bleistiftkorrekturen in altdeutscher Schreibschrift. Dabei handelt es sich meiner Ansicht nach um die Handschrift Heinrich Stoltes.9 Die Abschrift wäre demnach vor dem Tode Heinrich Stoltes im Juni 1935 erstellt worden.

Es lassen sich drei Sorten Korrekturen unterscheiden:

I.) Korrekturen offensichtlicher Verschreibungen.
II.) Korrekturen von Stellen, an denen Meta Koch anscheinend Formen aus ihrer Clever Mundart verwendet hat.10
III.) Verbesserungen der Übersetzung selbst.

Letzterer Punkt ist für mich ein weiteres Indiz dafür, dass die handschriftlichen Korrekturen tatsächlich von Heinrich Stolte stammen.

Die vorliegende Ausgabe ist darum auf der maschinenschriftlichen Fassung in Kombination mit den handschriftlichen Korrekturen basiert. Diese Korrekturen werden im Text nirgendwo kenntlich gemacht. Die Konjekturen <...> und Athetesen [...] stammen von mir. Es handelt sich dabei um einige wenige Fälle, in denen der Korrektor offensichtliche Verschreibungen übersehen hat.


Olaf Bordasch







1 Bauernhof und Mundart in Ravensberg : Beiträge zur niederdeutschen Volkskunde / von Heinrich Stolte. - Bielefeld : Küster, 1931, S. 45
2 Wie schreibe ich die Mundart meiner Heimat? : ein Beitrag zur niederdeutschen Rechtschreibung und Mundartforschung auf der Grundlage der Ravensberger Mundart in Brockhagen und Steinhagen / Heinrich Stolte. - Leipzig : Otto Lenz, [1925]. - 88 S. : Tab. ; 21 cm
3 Bauernhof und Mundart in Ravensberg : Beiträge zur niederdeutschen Volkskunde / von Heinrich Stolte. - Bielefeld : J.D. Küster Nachf., 1931. - 120 S. ; 23 cm
4 Eine hochdeutsche Übersetung findet sich in Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg. - Jrg. 85 (1998/99). - S. 7 - 84
5 Auf Grundlage dieses Wörterbuches wurde 2002 von mir eine hochdeutsch-plattdeutsche Wörterliste im Internet herausgegeben. 2006 wurde diese Wörterliste um einen plattdeutsch-hochdeutschen Teil erweitert.
6 Vgl. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg. - Jrg. 85 (1998/99), S. 8
7 Westfälische Grammatik : die Laute und Flexionen der Ravensbergischen Mundart mit einem Wörterbuche / Hermann Jellinghaus. - Vaduz/Liechtenstein : Sändig Reprint Verlag Wohlwend, 2001. - VIII, 156 S. ; 21 cm
(unveränderter Neudruck der Ausgabe von 1877)
ISBN 3-253-02411-3

8 Bauernschaft bei Borgholzhausen.
9 Die Handschrift Stoltes ist mir durch eine Autorenwidmung auf dem Titelblatt eines seiner Bücher bekannt. Die Handschrift der Widmung und die der Korrekturen stimmen, soweit ich das beurteilen kann, miteinander überein.
10 Koch schreibt z.B. grundsätzlich Sai (die See). Stolte hat dieses durch die Brockhäger Form Soe ersetzt. Auch hat Koch die hochdeutsch anmutende Form Fainde (Feinde) verwendet. Stolte hat diese überall durch das gut plattdeutsche Fuinde ersetzt.

Letzte Änderung: 14. September 2015 Zurück

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Das Neue Testament in die ostwestfälisch-niederdeutsche Mundart des Ravensberger Landes übersetzt von Heinrich Stolte
und herausgegeben
von Olaf Bordasch
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